"Schreiben ist Hören"

Hubert Fichtes radiophone Ethnografie*


Wenn es einen Satz gibt, durch den die literarischen Unternehmungen des Hamburger Schriftstellers Hubert Fichte hinreichend charakterisiert werden könnten, dann lautete dieser: "Reisen ist Wissen". Über antirassistische Ethnografie als Entwicklungsprojekt im Vorübergehen.

Das in den Achtziger Jahren entstandene, multimediale Projekt einer écriture homosexuelle ist bislang zwar ambitioniert, aber keineswegs antirassistisch. Ob es das Bild von Rainer Werner Fassbinders maghrebinischen Darsteller und Geliebten El Hedi Ben Salem in "Angst essen Seele auf" (1973) ist oder aber das Orient-Klischee, das Pier Paolo Pasolini in seinen "Erotischen Geschichten aus tausendundeiner Nacht" (1974) entworfen hat – frei von neokolonialisierenden Denkmustern sind diese Repräsentationen keineswegs. Einer der wenigen queeren Schriftsteller, dessen Reiseberichte und Prosatexte nur bedingt von derartigen Projektionen durchzogen sind, ist hingegen Hubert Fichte. Der 1935 in der BRD geborene Autor, dessen Schreiben durch die frühe Begegnung mit Hans Henny Jahnn initiiert und durch zahlreiche Reise- und Literaturstipendien befördert worden war, bereiste zeitlebens so unterschiedliche Länder wie Marokko, Brasilien, Ägypten, Schweden, Haiti, Griechenland, Venezuela, Senegal, Tansania und Äthiopien.

Fichte, der zuerst eine Landwirtschaftslehre absolvierte und anschließend das dabei erworbene Wissen über die Landesgrenzen hinweg als Entwicklungshelfer vermittelte, umging in und mit seinen Beschreibungen viele Fallstricke der Exotisierung. Dies ist auch auf eine ungewöhnliche Arbeitsweise zurückzuführen, die Langzeitbeobachtungen des Vorgefundenen ebenso beinhaltet wie das Sammeln und Notieren von Gesprächsfetzen, das intensive Studium der im besuchten Land gesprochenen Sprache(n) sowie Interviews mit den dort Lebenden. Allein an der Materialsammlung für seinen Roman "Die Palette" arbeitete Fichte drei Jahre lang, mit akustischen Gedächtnisstützen behalf er sich etwa, um ein Übergabe-Ritual in Sao Benedito zu verstehen. Im 1983 für den WDR produzierten Hörspiel mit dem Titel "Silbergarten. Monolog von Deni Prata Jardin, Brasilianerin" hat er dieses eindringlich beschrieben, mit den unmittelbaren Folgen kolonialer Machtausübung sich indes im Hörspiel "Gesprochene Architektur der Angst" von 1973 auseinandergesetzt. Die Konjunktur religiöser Rituale in Guatemala führt Fichte darin auf die anhaltende Asymmetrie zwischen Arm und Reich zurück – in einem Land, das bis heute an diesem Gegensatz zugrunde zu gehen droht.

Fichte, der 1986 an den Spätfolgen einer HIV-Infektion verstarb, kam ursprünglich vom Radio-Feature und situierte sein Schreiben stets an der Schnittstelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Von der Ordnung des Akustischen unterscheide sich die des Auges dadurch, dass es "zu Distanzierung und Trennung" erziehe, das nach Außen nur bedingt verschließbare Ohr hingegen "zum Durchmischen von Außen und Innen". Die drastischen Auswirkungen jener Kulte, deren Wiederkehr Fichte als Spätfolgen der Kolonialisierung betrachtete, konnte er unter anderem in den psychatrischen Kliniken von Dakar und Port-au-Prince beobachten, gemeinsam mit seiner langjährigen Gefährtin, der Fotografin Leonore Mau, war Fichte dort auch sozial tätig gewesen. Könnte man ihn heute danach fragen, welche Techniken der Annäherung an das 'Andere' die adäquaten seien, hätte Fichte vielleicht auf all jene intersubjektiven Formen verwiesen, die irgendwo zwischen spiegelnder Imitation und identifikatorischer Einverleibung des Gegenübers liegen. Gemacht hat Fichte diese Erfahrung, nebst vieler anderer, beim Zu-Fuß-Gehen. Etwaigen Nachahmer_innen eines laut Selbstbeschreibung "bisexuellen Ethnologen und Schriftstellers" sei deshalb empfohlen, sich zuallererst auf ihre Füße zu verlassen, wenn sie an einen neuen Ort kommen.

Empfehlung: Hubert Fichte: Hörwerke 1966-86. Features, Lesungen, Reiseberichte, Hörspiele. Frankfurt am Main, Zweitausendeins (2006), zum Entlehnen zum Beispiel hier

Spazierengehen mit Hubert Fichte – ein Übersichtsplan © Zweitausendeins

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* Überarbeitete Version, Original erschienen in UNIQUE 09/2013