Comic-Kolumne
Die Milieus der Erinnerung
erschienen in: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder No. 172, S. 98 – 99
Was ist Erinnerung, was zuhause? Erste Antworten auf diese
Fragen haben Graphic Novel-Autor_innen aus unterschiedlichen Herkunftsländern
vor mehr als zehn Jahren zu skizzieren begonnen. Die Leser_innen sind ihren
Figuren panelweise gefolgt. In Band 2 von Marjane Satrapis Persepolis (2004)
haben sie das im Zuge des Zweiten Golfkriegs zerstörte Teheran durchquert, kletterten
in Zeina Abiracheds Das Spiel der Schwalben (2013) über die Absperrungen
zwischen Ost- und Westbeirut, wurden in Aleksandar Zografs Regards From Serbia
(2007) Zeug_innen einer vermeintlich humanitären Intervention über Belgrad oder
vermaßen mit Nina Bunjevacs Vaterland (2015) die Grenzen des vormaligen
Jugoslawien von Kanada aus. Vom Ort der Kindheit ist in diesen Graphic Novels
oft nicht viel mehr als eine auf Papier gebannte Bildabfolge geblieben. Die
melancholische Maschinerie der Graphic Memoires funktioniert seit jeher nach
ihren eigenen Gesetzen; vorm Objektiv dieser camera obscura wirft die
biografische Vergangenheit besonders lange Schatten.
„Woraus speist sich Erinnerung?“ (7). Mit dieser Frage beginnt auch die 2016 im
Berliner Avant-Verlag erschienene Graphic Novel Madgermanes, in der sich Birgit
Weyhe mit Biografien im Grenzgebiet zwischen Ost und West beschäftigt. Auf die
Lebensgeschichten ehemaliger DDR-Vertragsarbeiter_innen aus Mosambik, die sich
später als in Deutschland gemachte Afrikaner_innen – „Made in Germany“ –
bezeichnen sollten, wirft sie ein besonderes Licht. Schwarz, Weiß und ein ins
Ockerfarbene gehendes Grün sind die von ihr gewählten Farben,
personenzentrierte Interviews das Material, aus dem sie schöpfte. Ihre Konstruktionsprinzipien
legt Weyhe bereits auf den ersten Seiten ihres Buches offen, gefolgt von
Assoziationen an die eigene Kindheit in Uganda und Kenia. Gerade weil sie auf
begrenztem Raum viele Stimmen hörbar machen wollte, hat die Autorin soziale
Typen kreiert. Einerseits sind José Antonio Mugande, Basilio Fernandoo Matola
und Anabella Mbanze Rai personale Erzähler_innen in Madgermanes, andererseits
fungieren sie als Platzhalter_innen für die vielen, zu Beginn der 1980er Jahre
in die DDR importierten Arbeitskräfte. Das Leben rund um ein Ost-Berliner
Wohnheim wird aus drei Perspektiven gezeigt, die sich durchdringen, ergänzen,
einander sogar bedingen – davon erfahren die Leser_innen jedoch erst mit
zunehmendem Informationsstand.
Es kümmert wieder, wer hier spricht – bei Weyhe hat dieses Sprechen viel mit Geschlecht,
Rasse und politischer Überzeugung zu tun und erhält aufgrund seiner begrenzten
Übersetzbarkeit auch eine eigenständige Form. Anstatt die Wörter – wie partiell
auch bei Marjane Satrapi – im Original zu belassen, stellt die Autorin
Fremdsprachiges durch Sprechblasen, gefüllt mit vertikal verlaufenden Strichen
dar – einer Art Code, den nur die, die im Bild sind, zu kennen scheinen. Auf
diese Weise setzt sie Grenzen – und verschiebt sie zugleich. Wenn Weyhe etwa ins Innere ihrer Figuren blickt, wird
dies im Bild durch punktförmige Linien angedeutet; ein innerhalb der
Comic-Semantik fest etablierter Marker für Abwesenheit wird so zu einem Zeichen
für ein Zuviel an innerer Präsenz. Formal innovativ ist auch Weyhes Darstellung
von Erinnerungen. Die dazugehörigen Metaphern und Redewendungen erweisen sich
nicht selten als „Bibliotheksphänomene“: So etwa verrät Basilio den Leser_innen
auf den letzten Seiten des Buches, dass er die afrikanischen Sprichwörter, die
seine Erinnerungen illustrieren, einem Buch aus dem sozialistischen
,Bruderland’ entnommen hat.
Memoires werden in Madgermanes nicht als stabiles Objekt, sondern als dynamische
Verknüpfungen multisensorischer Eindrücke repräsentiert. Ihre Form ist durch
die jeweilige Gegenwart der Erzähler_innen bestimmt. Für José, den
introvertierten Gleisbaufacharbeiter, der nach acht Jahren harter Arbeit in den
Staatsbetrieben der DDR nach Mosambik zurückgeschickt wird, stellt sie sich
als „läufige Hündin“ (21) dar; Basilio, dem es nach der Wende ähnlich ergeht,
bezeichnet sie mal als klaren See, dann als Kopf voller Lasten. Lediglich
Anabella, die vorgibt, sich an nichts erinnern zu können, scheint ihre Zeit als
Vertragsarbeiterin in der Wärmflaschenproduktion der VEB Gummiwerke
vollständig verdrängt zu haben. Während dem Erzählen muss sie feststellen, dass
auch diese einen Ort in ihrem Gedächtnis hat – unterhalb der obersten
Hautschicht, dort, wo es bis heute „höllisch weh tut“ (166). Die Leser_innen
erfahren von ihrem Zusammenbruch nach der Trennung von José, der mit ihr eine
Familie gründen wollte. Um nicht in das Land zurückkehren müssen, in dem zuerst
ihre Eltern, dann ihre Geschwister ermordet wurden, entscheidet Anabell sich
für eine Abtreibung. Madgermanes zeigt nicht nur wie aus diesen frühen
Schmerzen „Hülfsmittel[n] der Mnemonik“ (Nietzsche) wurden, die in, am und
durch den Körper wirkt (vgl. Abb., 165); Anabella, die ihren Aufenthaltsstatus
als einzige der drei Vertragsarbeiter_innen legalisieren konnte, ist es
gelungen, sie in Geburtswehen zu verwandeln: als heimliche Heldin der
Geschichte kann sie sich gut ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der DDR als
eine der ersten schwarzen Ärztinnen in Stuttgart etablieren.
Weyhe, Birgit: Madgermanes, Berlin: avant-verlag 2016