Comic-Kolumne
Die Frau vom anderen Ufer
erschienen in: Unique 1/2017
„The woman I’m going to be / Waits for me across the sea” – so lauten die ersten
Zeilen eines im Verlauf von Jaime Cortez’ Graphic Novel Sexile immer
wieder zitierten Kinderlieds, das zur Hymne für eine ganze Generation kubanischer
Trans*Personen wurde. Mit ihrem Wunsch auszuwandern, verband sich nicht nur die
Hoffnung nach einem fixen Platz am amerikanischen Festland; zwischen den Zeilen
ist auch von einer Ankunft die Rede, die mehr als ein territoriales Heimisch-Werden
in Aussicht stellt. Es ist ein Ankommen, das mit dem Zuhause-Sein im eigenen
Körper einhergeht – einem Körper, der infolge einer in Schieflage geratenen
Dialektik von Selbst- und Fremdwahrnehmung oftmals als ,falsch’ wahrgenommen
wird und anderswo zu einem besser bewohnbaren Ort werden soll.
Im letzten Bild von Jaime Cortez’ im Auftrag des Institute
for Gay Men’s Health angefertigter Graphic Novel Sexile ist in einem
schmalen Textkasten im unteren Bildrand das Wort „llego“ – spanisch für „ich
komme“ – zu lesen. In einem großformatigen Einzelbild sind die Füße einer Frau
zu sehen, die mit einem ihrer Beine noch im Wasser, mit dem anderen jedoch
schon auf festem Grund steht. Sie hat zu schwimmen aufgehört und kann nun
endlich an Land gehen. Bei dem/der Protagonist_in handelt es sich um die 1958
in Havanna geborene und heute in San Francisco lebende Künstler_in,
Performer_in und HIV/AIDS-Aktivist_in Adela Vazquez, die in Sexile von
einem doppelten Emigrationsprozess erzählt. Dieser beginnt mit dem Verlassen
ihres Herkunftslandes im Mai 1980 und endet mit der Ankunft in einem nunmehr
der gefühlten Geschlechtsidentität entsprechenden Körper in den USA der 1990er
Jahre.
Bilder von uferlosen Wassern illustrieren Adelas
Geschichte von Beginn an. Erst gegen Ende der Graphic Novel wird der Ozean zu
einem Ort, in dem die Protagonist_in sich zuhause – „like in all the in-between
places“ – fühlt. Sexile basiert auf biografischen Interviews, die Jaime
Cortez über einen mehrjährigen Zeitraum hinweg mit Adela Vazquez geführt hat. Sie
bilden die Basis für eine Graphic Novel, die den Verlust von ,Heimat’ mit der
(Neu)Konstitution von (geschlechtlicher) Identität verbindet. Ein imaginärer
Raum, den Cortez’ im Anschluss an den puertoricanischen Theoretiker Manolo
Guzman, der damit die Exil-Subjektivität von queeren Runaways zu fassen
versucht hat, als „Sexile“ bezeichnet, wird darin verhandelt. Die titelgebende
Wortneuschöpfung – ein Amalgam aus „Sex“ und „Exile“ – legt es nahe, dass das
queere Exil erst in zweiter Linie ein geografisches ist; ein geschlechtliches
Unbehagen steht am Ausgangspunkt einer Suche, die – auch infolge der Flucht vor
Familien- und anderen -verbänden – mit zahlreichen Ortsverrückungen einhergeht.
Unter Rückgriff auf unkonventionelle Panelanordnungen und mehrsprachige
Sprechblasen wird in Sexile der transnationale, transidentitäre und
transformative Lebensverlauf einer außergewöhnlichen Frau* verhandelt.
Transidentität wird darin weniger als lineare Entwicklung denn als aktives
Begehren nach einem Anders-Werden verstanden und geht mit der reflexiven
Befragung binärer Schemata einher. Insbesondere die
formal kluge Bildgestaltung eröffnet Räume für ein Denken jenseits des
Geschlechterbinarismus – Mann, Frau und zugleich mehr als nur das. Adelas
bisweilen auch satirische Beschreibungen ihrer eigenen Körperlichkeit münden in
keiner kohärenten Erzählung darüber, wie man(n) die Frau wird, die man immer
schon war; eher wirken sie wie eine Persiflage auf die Frage nach dem ,wahren
Geschlecht’ denn als ernstzunehmende Antwort darauf. Und erneut tönt vom
anderen Ufer der Bucht von San Francisco ein altes Lied. Die Botschaft zu
Beginn der Geschichte kehrt diesmal in verkehrter Form an die kubanische Küste
zurück. Sie stellt die immer schon anderswo vermutete Möglichkeit eines Ident-Werdens
mit unerreichbaren Geschlechteridealen am Ende (selbst-)reflexiv in Frage.
Cortez, Jamie, Sexile,
Los Angeles, Institute for Gay Men’s Health, 2004.
Mehr Informationen zur Arbeit von Jaime Cortez finden Sie
hier
Die Graphic Novel wird auf der Homepage des Autors auch zum Download angeboten