Enigmatische Encodierungen

erschienen in:  Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder No. 178 , S. 108-109


Drei Dinge sind es, die Eliza Clayton, Haushälterin im englischen Winslow, am Nachmittag des 8. Juni 1954 nach dem Betreten des Anwesens in Holly Mead vorfindet: die Reste von Lammkoteletts am Esstisch, ein paar Schuhe vor der Schlafzimmertür und einen angebissenen Apfel am Nachtkästchen, daneben ein regloser Körper, um den Mund der Geruch von Bittermandel. Von ihr wird der Tote als Alan Mathison Turing, Mathematiker, Kryptograph und Pionier auf dem Gebiet der Computersysteme, identifiziert. Man kommt zum Schluss, dass es Suizid gewesen war und vermerkt im Totenschein: Atemstillstand durch Cyanidvergiftung.

„Dip the apple in that brew / Let the sleeping death seep through” – diesen Reim aus Walt Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge hatte Alan Turing nicht erst wenige Stunden vor seinem Tod auf den Lippen. Bereits als Dissertant an der Princeton University soll er, ansonsten mit dem mathematischen Problem der maschinellen Berechnung von Nummern befasst, diese Zeilen immer wieder vor sich hergesagt haben. In Robert Deutschs 2017 im Berliner Avant-Verlag erschienener Graphic Novel wirkt die Anleitung zur Verfertigung von vergifteten Äpfeln wie ein performativer Zauber-Spruch, der alle weiteren Stationen eines kurzen Lebens bestimmen wird. Nicht erst im Wald von Winslow legt sich das Echo dieser Worte wie ein Hall über die Dinge; zu vernehmen waren sie bereits in Bletchley Park, wo Turing die entscheidenden Berechnungen zur Decodierung von Nazi-Funksprüchen vorlegte und der Geheimhaltungspflicht wegen diesen Ort auch „Schneewittchens kleine Hütte im Wald“ (140) nannte.

Testosteron ist ein Pharmakon, das den Körper panzert, Östrogen hingegen eines, das ihn verletzbar macht. Während die seit den Dreißigern zirkulierenden Bilder des Berliner Sexualwissenschafters Magnus Hirschfeld Frauen, die als Männer arbeiteten mit demselben Normalisierungsanspruch präsentierten wie Soldaten in Frauenkleidern, schreckte das britische Rechtssystem der Fünfziger nicht davor zurück, Homosexuelle zu Kriminellen zu erklären, die mit ihrer Sexualität auch das zweigeschlechtliche Arrangement von Paarungsnormen in Frage stellten. Erst 1967 wurde der „Criminal Law Amandment Act“ beseitigt, nach dem fast 50 000 Homosexuelle verurteilt worden waren. Alan Turing war das prominenteste Opfer dieser Unrechtsjustiz und selbst vor Gericht noch von der Unrechtmäßigkeit des Paragraphen überzeugt. Im Januar 1952 hatte er eine Polizeistation aufgesucht, um einen Diebstahl aus dem Bekanntenkreis seines Liebhabers Arnold Murray zu melden; nicht fremdes Verschulden, sondern sein eigenes sexuelles Handeln wurde in Reaktion darauf zur Anzeige gebracht.

Eine absurde Realität, in der Recht schnell in Unrecht umschlagen kann, erscheint in Deutschs Acrylbildern wie ein brutistischer Weltentwurf, dem es an Tiefenstruktur und Perspektiven mangelt. Opfer können darin schon im nächsten Bild zu Tätern werden und ein heimlicher Held, ohne dessen kryptoanalytische Leistungen das Ende des Zweiten Weltkrieg nicht absehbar gewesen wäre, zum Gefangenen des Staates, dem er diente. Alternativ zur Internierung entscheidet Turing sich nach seiner Verurteilung für eine Hormonbehandlung – und begeht infolge der physischen und psychischen Veränderungen ein Jahr später Selbstmord. Deutschs Interpretation des englischen Exzentrikers, der seine Kaffeetasse nach Dienstschluss stets an einen Heizkörper anzuketten pflegte, ist eng an Andrew Hodges Turing-Biografie Enigma angelehnt und will nicht durch die Darstellung der wissenschaftlichen Leistungen ihres Protagonisten imponieren. Demnach fallen alle Anleihen bei der reichen Symbolwelt von Mathematik und Physik in Turing äußerst bescheiden aus. Für die Geschichte, die stattdessen erzählt wird, ist dies nicht unbedingt von Nachteil. Deutschs Bilder sind keine Konstruktionen aus dem Ingenieursbüro und alles, was darin mit Technik zu tun hat, erweist sich nicht selten als sekundäre Manifestation von etwas Anderem: Das immer schon verlorene Objekt war auch für Alan Turing kein Automat.

Besonders berührend ist jene Szene gegen Ende des Buches, in der Alan, eben noch am Großrechner stehend, seine Jugendliebe Christopher zum zweiten Mal vor sich zu sehen glaubt. Die zeitlebens herbeigesehnte Begegnung mit dem Prinzen aus Kindertagen erweist sich schnell als ernüchternder Griff ins Leere. Unter dem Druck der Umarmung werden die Falten des Hemdes zu Fäden, die langsam durch die Finger rieseln, im Bild darauf hält Alan nur mehr die Kabel eines Computers in den Händen. Er weiß, dass ihn niemand wach küssen wird und mutiert zur bösen Königin. Was am Ende bleibt, ist ein Apfel. Anders als die Laptop-Icons eines milliardenschweren IT-Konzerns steht dieser nicht im Zeichen eines hedonistischen Triumphs über die Welt und ihre Gesetze, hier isst keiner vom Baum der Erkenntnis oder wird alterslos durch den Verzehr von Hesperidenfrüchten. Auf der letzten Seite des Buches erscheint Alans Apfel spiegelverkehrt.


Cover, Turing



Robert Deutsch: Turing Avant-Verlag 2017