Wittgenstein mit grünen Männchen

Derek Jarman, Brutal Beauty*



Ein Blick auf die biographischen Daten des britischen Avantgarde-Filmers Derek Jarman hinterläßt den Eindruck, als ob hier ein Leben zu früh zu Ende gegangen ist. Jarman, 1942 als Sohn eines Marine-Offiziers der Royal Air Force in Middlesex, England, geboren, verstarb 1994 mit 52 Jahren an AIDS. Vierzehn Jahre später widmet sein Freund und Kollege Isaak Julien dem Künstler die Werkschau Brutal Beauty, die von Juli bis Oktober 2013 in der Kunsthalle Wien zu sehen war.

Ohne die Dokumentation Derek bliebe den Besucher_innen der Ausstellung Brutal Beauty vieles von dem, was darin gezeigt wird, schwer zugänglich. Derek hingegen ist ein filmisches Portrait, das sich dem britischen Künstler in klassischer Machart annähert. Neben wackeligen Super-8-Aufnahmen aus dem bürgerlichen Familienhaushalt der Jarmans und Ausschnitten aus späteren Filmen speist die Dokumentation sich weitgehend aus historischen Bildern. Eine Künstler_innen-Biographie wird darin nicht ohne zeitgeschichtlichen Rahmen erzählt: Hippies, Punk, Bergarbeiterstreik, AIDS-Krise und die Einführung von Clause 28 – einem im Jahr 1988 durch Margaret Thatcher abgesegneten Paragraphen, der die "Förderung von Homosexualität" unterbinden sollte – sind die politischen Zäsuren, die mit Jarmans Schaffen aufs Engste verbunden sind. Zwischendurch wandert Tilda Swinton monologisierend durch die Stahl- und Nieroster-Fassaden des heutigen London: Zu Beginn des Films passiert sie den Grabstein des Freundes, gegen Ende betritt sie sein Refugium. Es ist kein Englischer Garten, den die Betrachter_innen hier zu sehen bekommen: Stein, Treibholz, Rostobjekte – das sind die Utensilien, die nebst einer Fischerhütte das Grundstück in Dungess zieren, auf das Jarman sich mit Beginn seiner AIDS-Erkrankung im Jahr 1986 zurückgezogen hatte. Dungess ist ein Garten der Toten; gleich daneben befindet sich ein Kernkraftwerk.

Infolge des mehrfachen Umkopierens des billigen Super-8-Materials, mit dem Jarman die meisten seiner Filme produzierte, sind grelle Farbeffekte entstanden, die in The Last of England von 1987 besonders stark zutage treten. Nahe der Docks von London und Liverpool aufgenommen, ist dieser Film eine Antwort auf das politische Desaster des Thatcherismus. Die damit einhergehende Lahmlegung des intellektuellen Lebens manifestiert sich in thanatologischen Bildern, der Widerstand der Hinterbliebenen ist indes ein radikaler: Ähnlich wie in Kenneth Angers Scorpio Rising haben in der Schlüsselszene von The Last of England zwei Männer in schwarzer Uniform vor der englischen Fahne Sex. Vorbei ist die Zeit, in denen Jarman – so etwa in The Angelic Conversation von 1985 – nackte Jünglinge in unbedarfter Natur zeigt. The Last of England trägt im Deutschen den Untertitel Verlorene Utopien und versucht diesen Verlust mit ästhetischen und narrativen Mitteln einzuholen.

Caravaggio 1986, Wittgenstein 1993 – Jarmans Hinwendung zum Künstlerportrait war niemals narzisstisch motiviert. In Caravaggio entwirft er ein Bild des Künstlers als homosexuellen Wanderarbeiter, der aus einer Prostituierten ein Renaissancegemälde macht und aus seinem Liebhaber einen Fürsten, Wittgenstein zeigt den Wiener Philosophen als Opfer jener Zwänge, die seine logischen Konstruktionen ihm auferlegt haben. Zwischendurch tauchen grüne Männchen mit langen Tentakeln auf, die dem Einzelkind aus großbürgerlichem Hause heimlich Gesellschaft leisten – sie geben dezente Hinweise auf Wittgensteins Homosexualität, die vom Gros seiner Biograph_innen immer noch verschwiegen wird. Worüber man nicht sprechen kann, darüber sollte man doch eigentlich Filme machen: Bei Derek Jarman haben grüne Männchen den Rest der Wittgenstein'schen Wahrheitskonstruktion vorweggenommen.


Weitere Filme zu Derek Jarman:

Trailer zu Wittgenstein ( UK | Japan 1993), Italian

Derek Jarman: You Know What I Mean (UK | 1989)

Face to Face: Derek Jarman von Janet Fraser-Crook

*Überarbeitete Version, Original erschienen in MALMÖ 09/2013