"Der dritte Ort"

Barbara Eder im Gespräch mit Vina Yun*


In den 1980ern setzte sich im deutschsprachigen Raum die Bezeichnung Graphic Novel durch, mit erfolgreichen Comic-Romanen wie „Maus“ von Art Spiegelman. Ist es Zufall, dass diese „grafischen Novellen“ oder „AutorInnen-Comics“, wie sie auch genannt werden, häufig autobiografisch inspiriert sind und „Fremdheit“ zum Thema haben?

Die Bezeichnung Graphic Novel geht auf den Comic-Pionier Will Eisner zurück, der Formen des autobiografisch inspirierten Erzählens damit von den bis heute den amerikanischen und europäischen Markt dominierenden SuperheldInnen-Comics abgrenzen wollte. Im engeren Sinne ist eine Novelle eine literaturwissenschaftliche Gattung, die eine unvorhergesehene Begebenheit thematisiert. Insofern ist dieses Format ideal, um wahrnehmungsbezogene Fremdheitserfahrungen darzustellen, die mit Migrationsprozessen einhergehen können: Abseits von Genrekonventionen können Phänomene zum Ausdruck gebracht werden, die nicht zureichend durch die master narratives konventionellen Erzählens und die oftmals stereotypen HeldInnenfiguren im Mainstream-Comic beschrieben und dargestellt werden können. Verbunden ist diese Entwicklung auch mit einem veränderten Verständnis biografischen Erzählens: Wenn zum Beispiel Marjane Satrapi ihre Comic-Autobiografie als ‚Autofiction’ bezeichnet, dann suggeriert dies, dass sie die konstruktiven, diskursiven und medialen Aspekte biografischen Bilanzierens in Bildern in den Vordergrund stellt und nicht etwa von einer ‚authentischen Erfahrung’ ausgeht. Sie spielt in Persepolis bewußt mit orientalisierenden Darstellungsformen von Frauen aus dem Nahen und Mittleren Osten, die besonders stark in Walt Disneys Aladdin und die Wunderlampe sichtbar werden wie etwa dem Klischee der ‚schweigenden Orientalin’ oder der strikten Entgegensetzung des ‚Orients’ als Gegenwelt zum ,Okzident’.

In Deiner Forschungsarbeit zu Fremdheit und Migration in Graphic Novels verknüpfst du das Thema der Migration unmittelbar mit dem Genre Comic. Wie ist das zu verstehen?

Der Zusammenhang ergibt sich aus dem Thema: Zum einen gibt es einen überproportional hohen Anteil an jüdischen Immigranten auf Seiten der ProduzentInnen der ersten SuperheldInnen-Comics im Amerika der 1930er und 40er Jahre. Figuren wie Superman und Batman sind zum Beispiel Schöpfungen von Söhnen von Einwanderern in die USA. Diese Figuren zeichnen sich durch ihr antifaschistisches Engagement aus und können auch als Projektionen männlicher RetterInnenfiguren gelesen werden, die in Reaktion auf die Realität der nationalsozialistischen Lebensbedrohung vor der Zeit im Exil entstanden. Dass viele MigrantInnen in Form von Independent Comics in den 1990ern von ihren Erfahrungen berichten, kann auch darauf zurückgeführt werden, dass es sich dabei um ein von den Produktionsbedingungen und Vertriebsstrukturen der handelsüblichen Heft-Comics inhaltlich und ökonomisch relativ unabhängiges Format handelt: Zum einen sind die Produktionsbedingungen günstig – die Bilder in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten sind zumeist nicht aufwendig koloriert, was die Vervielfältigung und Verbreitung vereinfacht – und zudem bedarf es im Zusammenhang mit dieser autonomen Form der Distribution der Kontakte zu Major-Verlagen nicht, die in der Anfangszeit im Einwanderungsland noch nicht bestehen bzw. gar nicht erst angestrebt werden. Andererseits ist der Comic ist ein Medium, in dem Bedeutung nicht allein durch Schrift generiert wird, sondern primär durch grafische, lautbasierte und der gesprochenen Sprache nahe stehende Zeichen. Mithilfe der Vorläufer der visuellen sequentiellen Kunst konnte man deshalb eine LeserInnenschaft erreichen, die durch Bildungsbarrieren vom Lesen und Schreiben ausgeschlossen wurde – wie etwa im Zusammenhang mit den Revolutionsgrafiken im 18. Jahrhundert. Die häufige Verwendung von Mischsprachen im Comic zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist indes ein starkes Indiz dafür, dass damit verstärkt eine AdressatInnenschaft angesprochen werden sollte, die unterschiedliche Landessprachen im Alltagsgebrauch miteinander kombinierte.

Werden Migrationserfahrungen heutzutage stärker über das Medium Comic verhandelt? Oder sind Comics, die sich mit Migration beschäftigen, einfach nur sichtbarer geworden?

Ich denke, dass es eine Geschichte der Darstellung von Migrationserfahrungen im Comic gibt, die bisher nur bedingt sichtbar gemacht wurde. Dies ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass Migration bisweilen nur selten ein dominanter Fokus im Bereich der Betrachtung und Lektüre von Comics gewesen ist, sondern auch darauf, dass mehrfache kulturelle Herkünfte von ZeichnerInnen und Figuren oftmals nur am Rande erwähnt werden und wurden. Während Migration in Marjane Satrapis Persepolis und in Parsua Bashis Nylon Road das zentrale Thema ist, ist dieses in den Strips vieler queer-feministischer ZeichnerInnen beispielweise nur ein Nebenaspekt: Obgleich allein der Titel auf die plurilokale Herkunft von Diane DiMassas Protagonistin anspielt – ein paisan ist eine italienisch-amerikanische Wortschöpfung für eine ‚beste Freundin von Nebenan’– wird dieser Aspekt durch die Thematisierung von Hothead Paisans sexueller Identität als butch sowie ihr Leben mit ihrer Katze Chicken und ihrer blinden FreundIn Roz überlagert.Marginalisiert wird das Migrationsthema etwa in den frühen SuperheldInnencomics, in denen der Geburtsort der HeldInnenfiguren oftmals in den Bereich des Phantastischen verschoben wurde. So wurde Wonder Woman im geografischen Outer Space eines matriarchal regierten Inselstaats namens Paradise Island als Amazone geboren – ein Aspekt, der erst im Zuge der Reinterpretation der Serie durch den spanischsprachigen Emigranten George Perez in den 1980ern verstärkt ins Zentrum gerückt wurde – und Superman, der gelegentlich auch Kal El (hebräisch für 'Gott ist in allem') genannt wird, entstammt einem Planeten mit dem Namen Krypton, dessen Darstellung frappante Ähnlichkeiten mit dem Stehtl im Minsk der 1930er Jahre aufweist.

Was kann Deiner Meinung nach das Medium Comic in Bezug auf Themen wie Migration, Diaspora und Fremdheit, was andere Medien nicht können?

Scott McCloud hat die visuelle sequenzielle Kunst des Comics einmal als „unsichtbare Kunst“ bezeichnet - sie macht Unsichtbares sichtbar; anders als die Fotografie handelt es sich bei einem Comic-Bild nicht um eine Form der Repräsentation, die analog gesellschaftlicher Konventionen als Abbild gelesen wird. Mithilfe von gezeichneten Bildern können auch Dimensionen des Wahrnehmens zum Ausdruck gebracht werden, die sich nicht in der Wahrnehmung von aktuell vorhandenen Dingen in der Außenwelt erschöpfen. So etwa sind die aufgezeichneten Erinnerungen Marjane Satrapis an ihre Zeit im österreichischen Exil durch die für Erinnerungsprozesse so charakteristische Überlagerung unterschiedlicher Zeitebenen ebenso gekennzeichnet wie durch ein fortwährendes Changieren zwischen imaginiertem Herkunftsland und dem Einwanderungsland, in dem die Erzählfigur sich zum Zeitpunkt des Erzählens befindet. Zwei geografisch voneinander entfernte Territorien erscheinen infolge der sequentiellen Anordnung der Comic-Bilder wie benachbarte Orte. Es ist bezeichnend für Migrationsprozesse, dass sich das Bild des Herkunftlandes von der Perspektive des Einwanderungslandes aus betrachtet in Relation zu den jeweiligen Lebensbedingungen stark verändern kann. Im Hinblick auf die Darstellung der „imaginary homelands“ ebenso wie in Bezug auf die Möglichkeit der Darstellbarkeit subjektiver Wahrnehmungen von MigrantInnen scheint der Comic ein Glücksfall zu sein: Durch wolkenförmige Sprechblasen können beispielsweise Träume und Phantasien der ProtagonistInnen dargestellt werden, die Ausdruck einer eigenständigen subjektiven Realität im Kopf der ErzählerInnen sind. Dass es im Comic die Möglichkeit gibt, derartigen Imaginationen einen symbolischen Ausdruck zu verleihen, prädisponiert diesen geradezu für die Darstellung von ‚Fremdheits’-Erfahrungen: Im Comic kann der imaginative Raum eines „Dritten Ortes“ dargestellt werden, mit dem sich viele MigrantInnen identifizieren, die sich weder dem Herkunftsland ihrer Eltern noch der Kultur im Einwanderungsland zugehörig fühlen. Problematisch ist die Vorstellung eines Herkunftsortes auch für viele AfroamerikanerInnen, deren Vorfahren zur Zeit des transatlantischen Sklavenhandels gewaltsam verschleppt worden waren. Im Hinblick auf die black diaspora spricht Paul Gilroy deshalb von Afrika als „imaginierten Kontinent“, der in der comicaffinen Science Fiction oftmals an einen atopischen Ort außerhalb von Raum und Zeit verlagert wird.

Persepolis von Marjane Satrapi ist einer der populärsten Graphic Novels der jüngsten Zeit, die Migration thematisieren. Kannst du weitere Beispiele nennen?

Persepolis hat eine ganze Reihe an autobiografischen Comic-Novellen von Frauen inspiriert, in deren Zentrum die Themen Erinnerung und Leben im Einwanderungsland stehen. 2006 folgten Parusa Bashis Nylon Road und Meine Mutter war eine schöne Frau der nach Frankreich emigrierten weißen Südafrikanerin Karlien de Villiers, das New Yorker Tagebuch, in dem die in Québec geborene Comic-Autorin Julie Doucet von ihrer Migration nach New York berichtet, erschien bereits 2004 in deutscher Übersetzung. Der einem migrantischen ArbeiterInnen-Milieu entstammende französische Zeichner Hervé Baruela, der unter dem Künstlernamen Baru in Der Champion und Wut im Bauch die Geschichten von Boxern mit Migrationshintergrund erzählt, verbindet in seinen Themen wie den antikolonial motivierten Widerstand in Algerien, Rassismus und Sport als Mittel des sozialen Aufstiegs. Die in Amerika lebende Comiczeichnerin Lynda Barry, deren Eltern erzählt in One Hundred Demons ihre eigene autobiofictionalography, die durch Erinnerungen an Erzählungen aus der philippinische Mythologie seitens ihrer Mutter inspiriert ist. Zurück verfolgen kann man die subtilen Anspielungen auf Migrations- und Fremdheitserfahrungen in Comics jedoch bis auf frühe Darstellungen in den Wimmen’s Comics der 1970er Jahre. In Nose Job thematisiert Aline Kominsky-Crumb jedoch nicht nur ihre eigene Fremdheit gegenüber ihrer polnischen Familie, die sie zu einer Nasenoperation drängt, um die jüdische Zugehörigkeit unsichtbar zu machen, sondern noch eine ganz andere Form der Fremdheit: Es ist die Fremdheit im dazumal noch dualistisch gedachten Geschlechterverhältnis…

*erschienen in migrazine #4, wiederabgedruckt in: Kulturrisse. Zeitschrift für radikaldemokratische Kulturpolitik - IG Kultur Österreich, Heft 4/2010, S. 48-51, ebenso als KULTURRISSE-Textspende in derStandard.at/Kultur