Die Totenmaske der Lebenden

erschienen in:  Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder No. 179, S. 108-109


„Unsere Leiber erleben keine Invasion. Der Körper ist kein Schlachtfeld. Die Kranken sind weder unvermeidbare Opfer noch Feinde“, schreibt Susan Sontag, Lukrez paraphrasierend, auf der letzten Seite ihres Essays Aids und seine Metaphern von 1988. Damit wendet sie sich entschieden gegen jenes Heer und seine Metaphern, das die Logik der Kriegsführung – der historische Hintergrund ist der des durch US-Importe chemisch befeuerten Ersten Golfkriegs – auf die der Körper projizierte. Am Höhepunkt der Aids-Krise war nicht nur vom infektiösen Potenzial der sexuell und ethnisch markierten Anderen die Rede, sondern auch von einem Waffenarsenal, das gegen sie ins Feld geführt werden müsse: Aliens, die sich unbemerkt im Körper eingenistet hatten, zierten die ersten Covers von Frontline und Time Magazine, im Rahmen einer Ikonografie der inneren Kriegsschauplätze wurde das Immunsystem zur zentralen Instanz der Landesverteidigung. Gegen die opportunistischen HIV-Erreger, die das körpereigene Abwehrsystem schwächen, gibt es bis heute keinen wirksamen Impfstoff; die Hunderttausende, die jährlich infolge von Kriegen versterben, wären durch das Gegengift des Friedens zu retten gewesen.

Ein Virus ist kein Virus ist ein Virus. Viele Bilder, die von Aids in Umlauf gebracht werden, reaktivieren bis heute ein Narrativ, das durch technische Metaphern noch befördert wird: Ein feindlicher Agent schleicht sich heimlich ein und sorgt in sozialen Netzwerken für toxische Verbreitungsketten und tödliche Abstürze. Die Bilder, durch die im Comic von Aids erzählt wurde, waren von Beginn an anders, sie setzten nicht im Körper, sondern bei seinen Beziehungen an. 1992 thematisierten Annie Goetzinger und Jón S. Jónsson in dem von Andreas C. Knigge ins Deutsche übersetzten Comic Die verlorene Zukunft erstmals den Tod eines Lebenspartners an Aids, in Ralf Königs Superparadise von 1999 erreicht das HI-Virus fünf Jahre später die heile Gegenwelt eines schwulen Badestrands auf Mykonos. Mit der aus dem Französischen übersetzten und 2006 bei Reprodukt erschienenen Graphic Novel Blaue Pillen von Frederik Peeters verliert Aids das Stigma einer exklusiv homosexuellen Angelegenheit und stiftet stattdessen neue Allianzen. Darin lernt das Comic-Alter-Ego des Autors die HIV-positive Cati und ihren ebenfalls infizierten Sohn kennen und lieben.

Von den anatomischen Atlanten des amerikanischen Magazinjournalismus weit entfernt sich auch die Schriftbilder, die MK Czerwiec in ihrem Grundlagenwerk der Graphic Medicine entwirft – in Taking Turns. Stories from HIV/AIDS Care Unit 371 erzählt auch sie von sozialen Verhältnissen und dem, was Aids mit ihnen machen kann. „You forgot my skin. Be sure to tell them all about Kaposi’s Sarcoma“, sagt darin ein Patient in metareflexiver Rückwendung auf sein eigenes Bild. Von seinem Comic-Körper gehen Striche aus, die in kühlen Infoboxen münden und dennoch nicht genug über Aids und seine Folgen sagen. Auf Seite 9 macht dieser sich zum Experten seiner eigenen Erkrankung und verrät den Leser_innen mehr als sie bereits zu wissen meinen – und schon sind wir mittendrin: Auf der HIV/Aids-Station des Illinois Masonic Hospital, wo die Erzählerin der Graphic Novel ein Praktikum beginnt. Den Studienabschluss in Philosophie und Englisch in der Tasche und ein Graffito von Keith Haring im Hinterkopf, tritt sie mangels Arbeitsmarktalternativen in die Fußstapfen ihrer Mutter und sammelt als Care-Arbeiterin erste Erfahrungen. Die Abteilung 371, die von 1985 bis 2000 existierte, wurde in Reaktion auf die Forderungen der lokalen LGBTIQ-Community gegründet und hatte sich den Dienst an dieser auf die Regenbogenfahne geschrieben. Hier will man keinen Krieg gewinnen, sondern Menschen ein Gesicht geben – eine Lektion, die die junge Stationsschwester MK besonders ernst nimmt. Im Buch zeichnet sie die Beziehungen zu ihren ehemaligen Patient_innen auf, fertigt Masken an von denen, die nicht mehr am Leben sind. An der Innenseite sucht sie bewusst nach Spuren und findet die Wimpern von Verstorbenen, die im Gaze-Abdruck zurückgeblieben sind.

Da ist etwa der ins Koma gefallene Tim, den MK über ein Jahrzehnt hinweg begleitet und über den sie sich fast selbst infiziert hätte, und Stephen, der sich im Moment seines Todes so fest an sie krallt, dass sie kaum mehr atmen kann; da sind aber auch Doktor Blatt und Doktor Moore, die die Station gegründet haben und MK’s Kolleg_innen, die alle ihre Patient_innen persönlich kennen. Der Abschied von ihnen fällt trotz eingeschliffener Routine und professionellem Umgang nicht immer leicht und die Tode, die sie sterben, sind selten die gewünschten. Für das, was man letzte Ruhe nennt, hat MK ihre eigenen Bilder gefunden: Nicht Viren fallen auf ihren Seiten in Körper ein, sondern Sterne von oben herab – und am Ende sind es so viele, dass sie den Himmel über Chicago hell erleuchten.


Cover, Taking Turns



MK Czerwiec: Taking Turns. Stories from HIV/AIDS Care Unit 371 Pennsylvania State University Press 2017